"Am 9. August 1989 bin ich, damals 26 Jahre alt, mit meinem Mann und unserer 4-jährigen Tochter offiziell von Ostberlin nach Westberlin ausgereist. Die beiden Fotos zeigen die letzten Augenblicke in unserer Wohnung im Prenzlauer Berg. Anschließend fuhren wir zum Übergang Friedrichstraße, konnten die Grenze ohne Probleme passieren und stiegen in die S-Bahn. Das erste, was wir während unserer Fahrt sahen, waren die nicht stillgelegten 'Geisterbahnhöfe'. Ein für Westberliner normaler Anblick, für uns etwas, wovon wir noch nie gehört hatten. Als wir am S-Bahnhof Humboldthain in Wedding ausstiegen, war der erste Gedanke 'es ist so grün hier, das muss ja beste Westberliner Lage sein'.
Im August 89 kamen immer mehr Ausreisende aus der DDR und auch schon die ersten Ungarnflüchtlinge nach Westberlin. Noch im Ostteil sahen wir die Fernsehberichte über Massenunterkünfte in überfüllten Turnhallen. Wir wollten uns und unserer Tochter dies ersparen, also wohnten wir übergangsweise bei einem Onkel im Wedding. Obwohl es nur 4 Monate waren, war es eine prägende Erfahrung ohne eigene Wohnung zu sein.
Die ersten 14 Tage im Westteil der Stadt waren ausgefüllt mit der täglichen Fahrt zum völlig überfüllten Aufnahmelager in Marienfelde. Dort mussten wir uns bei Polizei, Krankenkasse, Rentenversicherung usw. anmelden (nie habe ich so viele Formulare ausfüllen müssen wie in diesen Tagen). Außerdem wurden wir von den Alliierten verhört.
Schon Anfang September ging mein Mann wieder arbeiten. Das war eine wichtige Grundlage für den Aufbau unseres neuen Lebens. Bei der Suche nach einer Behörde habe ich am U-Bahnhof Kochstraße die falsche Richtung eingeschlagen und war plötzlich am Checkpoint Charlie – und da war gerade ein neues Wohnhaus kurz vor der Fertigstellung. Sofort habe ich die Kontakt-Nummer aufgeschrieben, noch am gleichen Tag angerufen und bin gerade noch mit in die Liste der Wohnungsbewerber gerutscht. Ende September wussten wir, dass wir ab Dezember in zwar absoluter Grenznähe, aber in einer eigenen Wohnung wohnen werden. Der Kreuzberger Teil der Friedrichstadt gehört bis heute nicht zu den bevorzugten Wohngegenden. In den 80er Jahren wollte man das Gebiet aufwerten und Baulücken schließen. Im Rahmen einer Bauausstellung wurden dann sehr hochwertige Wohnungen für den sozialen Wohnungsbau errichtet. Wir hatten das große Glück, eine dieser tollen Wohnungen zu bekommen. Der Preis dafür war, dass gleich nach dem Einzug über Jahre hinweg Gruppen von Architekturstudenten in die Anlage kamen, die Außenanlagen besichtigten (siehe Foto) und auch öfter mal klingelten, um in die Wohnung gelassen zu werden. Wenn wir in Richtung Straße aus dem Fenster schauten, sahen wir das Mauermuseum und einen Parkplatz, der von den Alliierten genutzt wurde.
Als am 9. November 89 die Mauer geöffnet wurde, hatten wir sehr gemischte Gefühle. Natürlich haben wir uns gefreut, Freunde und Verwandte wieder zu sehen. Aber es blieb auch ein schales Gefühl. Da kamen plötzlich Leute, die in den 5 Jahren, die es gedauert hatte endlich auszureisen, nichts unversucht gelassen hatten, uns das Leben in der DDR schwer zu machen."
Marion T.