"Zum Bußtag 1989 hatte ich meine Nichte Uschi zu mir eingeladen und ging zu Reichelt, um noch etwas einzukaufen. Die Kaiser-Wilhelm-Straße war voll von Menschen aus der DDR. Sie besichtigten Westberlin, machten Besuche bei Freunden und nicht zuletzt holten sie ihr Begrüßungsgeld von 100,– DM bei den Ausgabestellen ab. Als ich das Geschäft von Reichelt betrat, war dies reichlich gefüllt. Links vom Eingang stand eine Frau, der Tränen aus den Augen liefen, ohne dass sie schluchzte. Sie starrt auf den Gemüsestand. Ich sprach sie an und sagte: 'Sie können ruhig durch die Sperre gehen und sich die Waren von der Nähe ansehen.' Sie fragte mich: 'Was macht ihr mit dem Gemüse? Ich habe noch nie in unseren Kaufhallen solche Mohrrüben gesehen, mit frischem Grün und die so appetitlich und ansprechend aussehen!' Mir fiel dabei nur ein: 'Die werden vor dem Versand gewaschen!' Sie antwortete: 'Man hat uns in der DDR wie Tiere behandelt, bei denen kommt es nicht auf das Aussehen an.' Ich fragte woher sie denn komme. 'Aus dem Tal der Ahnungslosen' antwortete sie. 'Wo ist denn das' fragte ich zurück. 'Das werden Sie nicht kennen, es liegt in der Sächsischen Schweiz. Wir können dort nicht einmal Westfernsehen sehen.' 'Wie heißt denn der Ort in dem Sie leben' fragte ich weiter. 'Pirna!' antwortete sie. 'Das kenne ich noch von einer Klassenfahrt', rief ich. Sie konnte kaum glauben, dass es jemand im Westen gab, der als Kind sich dort frei mit seiner Schulklasse bewegt hatte. 'Wann sind sie denn von dort losgefahren?' 'Heute Nacht, als mein Mann aus der Nachtschicht kam.' Ich lud sie zu einer Tasse Kaffee ein, bat sie jedoch, mich erst einmal beim Einkauf zu begleiten.
Da ertönte von der anderen Seite eine Männerstimme: 'Darf ich auch mitkommen, ich bin ihr Mann' und ein wenig entfernt eine Jungenstimme: 'und ich der Sohn'. So kauften wir gemeinsam ein und gingen zu mir nach Hause. Unterwegs stellten sie sich vor und wollten mir als Bestätigung ihre Ausweise zeigen. 'Ich glaube Ihnen auch so', wehrte ich ab. 'Haben Sie keine Angst, wir sind drei und Sie allein?' Ich verneinte. 'Was geschehen soll geschieht. Ich vertraue Ihnen.' Wir tranken gemeinsam Kaffee und unterhielten uns angeregt. Dabei erfuhr ich, sie sei Kindergärtnerin, ihr Mann im Uranbergbau und der Sohn zur Zeit bei der Volksarmee an der Grenze, 'aber nicht in Berlin'. Er hatte einen Tag frei und so fuhren sie hierher. 'Haben Sie schon ihr Begrüßungsgeld abgeholt?' fragte ich 'und darf ich wissen, was sie sich dafür gekauft haben?' Ich war neugierig was für diese Familie wohl das wichtigste ist, das sie sich vom ersten Westgeld kaufen. 'Ja, wir wollten einen Videorecorder kaufen, aber unser Geld reicht nicht dafür aus. So kommen wir mit Familienangehörigen am Samstag noch einmal.' Sie wollten sich von Freunden an der Westgrenze Aufnahmen aus dem Westfernsehen machen lassen. 'Wo haben Sie sich den Videorecorder ausgesucht?' - 'In der Kaiser-Wilhelm-Straße, da wurden wir gut beraten.'
Während unseres Gesprächs hörten wir in den Nachrichten, dass es ab übermorgen neue Grenzbestimmungen der DDR gibt. Morgen war Bußtag und in Berlin noch Feiertag. Falls die Kontrollen verschärft würden, konnten sie dann am Samstag bei der Einreise in die DDR Schwierigkeiten bekommen. Ich schlug daher vor, ihnen die fehlenden 100,– DM für den Videorecorder zu geben. Zuerst wehrten sie sich, doch dann erklärte ich, wenn ich wieder einmal nach Bayern in den Urlaub fahre, könne ich ja bei Ihnen vorbei kommen. So waren alle zufrieden. Wir gingen gemeinsam in das Geschäft und ich bat, noch ein paar Kassetten als Zugabe einzupacken. Wir verabschiedeten uns und sie fuhren Richtung Tempelhof zu ihrem Trabbi, den sie auf einem Acker an der Grenze stehen lassen mussten, da Berlin bereits überfüllt war. Nach 14 Tagen erhielt ich einen liebevollen Brief, der für mich ein Zeitdokument ist. (...)
Ich fuhr dann vom 25.12.1998-02.01.1999 mit meinem PKW zu ihnen. Als ich in den Ort kam, lag eine schwere Dunstwolke aus der Zellstofffabrik darüber. Es dauerte auch nicht lange und ich fing an zu husten. Mir wurde dabei schnell klar, warum die Kinder des Ortes jedes Jahr an die Ostsee verschickt wurden. Auf der Anhöhe wurde ich von der Familie freundlich begrüßt. In diesen ausgebauten Räumen konnte man sich wohl fühlen. Die Familie zeigte sich als wahre Gastgeber. Ich wurde auch zu einem Geburtstag von Angehörigen mit genommen und erlebte dort den Zusammenhalt der Verwandten. Die augenblickliche politische Situation wurde von allen Seiten beleuchtet. Die Freude, wieder ein Deutschland zu sein stand im Vordergrund. Die Lust auf Reisemöglichkeiten ins Ausland, um andere Menschen, Kulturen und Landschaften kennen zu lernen, auf die Welt da draußen, war groß. Die Freiheit zu reisen wohin man will, stand für die Europäische Gemeinschaft, der sie angehören wollten."
Gisela Stange
(Auszug aus Gisela Stange: "Nur eine Berlinerin. Band 4: 'Ruhestand-Unruhestand?' Erfahrungen 1989 bis 2004." Books on Demand Gmbh, 2006.)