"Als meine Frau und ich uns zur Flucht aus der DDR entschlossen hatten, lebten wir schon lange zusammen, waren aber nicht verheiratet. Da wir in das in unserer damaligen Vorstellung konservative Bayern fliehen wollten, dachten wir, es sei besser, wenn wir verheiratet wären. Da es so kurzfristig aber keinen Termin mehr gab, heirateten wir kurzer Hand an dem einzigen verfügbaren Tag – am Freitag, den 13. Oktober 1989, ohne jegliche Gäste oder Trauzeugen, ohne Eltern, ganz geheim. Nur unsere damals fünfjährige Tochter war dabei. Erst vom 'Westen' aus teilten wir unsere Hochzeit und natürlich auch unsere gelungene Flucht den Eltern mit. Uns ist heute noch nicht klar, welche Mitteilung sie mehr umgehauen hat, auf jeden Fall war erst mal 'Funkstille'.
Aber es war damals nicht möglich, auch nur einer Person von unserer geplanten Flucht zu erzählen. Alle wären in Gefahr gekommen, außerdem hätte es das Risiko entdeckt zu werden für uns erheblich erhöht.
Wir sind dann am 22. Oktober 1989 gegen 6:00 Uhr, bevor es richtig hell wurde, auf einer abgelegenen Wiese im Vogtland in der Nähe von Bad Brambach mit unserem selbst gebauten Motordrachen gestartet. Beim Start ist mir beim Ansteuern des Drachens in den Wind ein Fehler unterlaufen und wir waren schon so schnell, dass keine Korrektur mehr möglich war. Der Drachen wurde total zerstört. Heute bin ich froh, dass meine beiden Passagiere, Frau und Tochter, nicht zu Schaden kamen – bei den vielen Teilen, die durch die Luft flogen. Es war an keinen weiteren Start zu denken.
Ich habe damals mit einem Diktiergerät, das ich drei Monate immer bei mir hatte, die gesamte Bauphase des Drachens sowie die schwierige Material-Organisation in den Betrieben und Geschäften dokumentiert und Gespräche heimlich aufgezeichnet. Ich dachte, wir könnten damit unsere ersten Schritte in der BRD finanzieren. Leider haben wir nur wenige Fotos, aber die Tonaufzeichnungen waren damals schon gefährlich genug. Der emotionalste Teil der Tonaufzeichnung ist der Start mit dem bekannten Ausgang, die mit den Händen zu greifende Anspannung, in der wir uns in diesem Moment befanden.
Wir sind dann am 4. November mit unserem zwei Jahre alten, auf einem Wolga selbst aufgebauten Wohnmobil über die Tschechoslowakei nach Bayern geflüchtet. Nach unserem geglückten Grenzübertritt in Schirnding sind wir zunächst in einer von Soldaten geräumten Bundeswehr-Kaserne in Wildflecken in der Rhön untergebracht worden. Mehrere Familien mit Kleinkindern lebten in der Soldaten-Unterkunft in Doppelstockbetten in einem Zimmer. Von dort aus informierten wir dann telefonisch unsere Eltern und Bekannten. Dort erlebten wir auch vor dem Fernseher den Fall der Mauer und das Ende der DDR. Wir fühlten uns damals etwas verunsichert, ob sich unser Einsatz mit dem hohen Risiko gelohnt hat, wenn die Mauer nun so einfach weg war. Umso härter haben wir dann gearbeitet und sind auf unser Erreichtes stolz.
Mindestens einmal im Jahr, am 9. November, wenn wir durch das Fernsehen an diese Zeit erinnert werden, werden wir noch heute sentimental, und des öfteren kommen uns die Tränen, wenn wir an unsere zwei Fluchtversuche denken. Am Ende ist es uns doch noch gelungen, die Grenze zu überwinden. Obwohl wir damals unter solch einem Druck standen, haben wir es doch wieder riskiert.
Es war eine gefährliche, nervenaufreibende Zeit, die wir mit so viel Einsatz und gegenseitigem Vertrauen dann doch zu einem guten Abschluss gebracht haben. Heute ist meine gesamte Familie froh und glücklich, damals alles so und nicht anders gemacht zu haben. Inzwischen leben wir in Thüringen und hoffen, dass die damalige Zeit nicht vergessen und vor allem nicht verklärt oder beschönigt wird."
Jochen Egerland