"Anfang August 1990 reiste ich durch Ostdeutschland, um für eine soziologische Studie eine Kreisstadt auszuwählen. Mich interessierten die Erfahrungen und Lebensgeschichten ihrer Bewohner vor und nach der 'Wende'. Die Stadt sollte nicht zu nahe an der Grenze zur Bundesrepublik oder West-Berlin liegen und zwischen 18 000 und 25 000 Einwohner zählen. Auch sollte sie eine historische Tradition und eine möglichst vielfältige Industriestruktur haben. Während dieser Reise entstanden viele Fotografien in der DDR-Provinz, die die Stimmung des Überganges, des Nicht-mehr und Noch-nicht festhalten. Schließlich entschied ich mich für den erstmals im Jahre 961 urkundlich erwähnten Ort Wurzen mit seinen damals rund 19 000 Einwohnern.
Die Mischung aus mittelalterlichen Resten, Industrie- und Arbeitervierteln der zwanziger und dreißiger Jahre und Quartieren, in denen Gründerzeitbebauung und Jugendstilfassaden überwogen, hob Wurzen deutlich von allen benachbarten Städten ab, die ich auf meiner Reise gesehen hatte, und bewegte mich zu bleiben. Ich habe in Wurzen mit wenigen Unterbrechungen in der Zeit von August 1990 bis Anfang 1992 bei einer Familie gewohnt und die Stadt auch danach immer wieder besucht, das Alltagsgeschehen verfolgt, mit den Leuten gesprochen und rund 170 Lebensgeschichten aufgeschrieben. Ende 1990, Anfang 1991 war bei den Wurzenern die Neugierde auf das Neue noch stärker ausgeprägt als die ebenfalls vorhandene Skepsis. Nie wieder war die Gesprächsbereitschaft so groß. Viele Bürger hofften auf eine rasche Verbesserung der materiellen und politischen Verhältnisse und waren noch durchdrungen von den Erlebnissen der 'Wendezeit'.
Meine Fotografien des ersten 'Nachwendejahres' zeigen noch belebte Straßen mit Menschen, die in Kittelschürzen oder im Schlosseranzug unterwegs sind. Inzwischen hat Wurzen nicht nur den Status als Kreisstadt, sondern auch rund 4 000 Einwohner verloren. Der selektive Abriss von Häusern kann den umfassenden Leerstand von Geschäften und Wohnhäusern nicht verdecken. Das 'So konnte es nicht mehr weitergehen' wurde bald schon abgelöst von einem: 'Aber wie es jetzt ist, haut es auch nicht hin.' In diesem Sinne ist in meinen Fotografien das Gedächtnis dieser Stadt aufbewahrt."
Cordia Schlegelmilch (West-Berlin)