"Im Rückblick fällt es mir schwer zu sagen, ob am 3. Oktober 1990, dem Tag der deutschen Einheit, eine Großveranstaltung am Reichstag stattgefunden hat. Oder ob die Menschen, die zu Tausenden ins historische Zentrum Berlins strömten, einfach nur ihren Nachmittagsspaziergang auf die Promeniermeile Unter den Linden verlegt hatten. Um bei mediterran beflügelnden Spätsommertemperaturen ersten zarten patriotischen Gefühlen zu huldigen, beziehungsweise ihre nun dem gleichen einig Vaterland angehörenden Landsleute vorsichtig zu beschnuppern. Beflügelt von der geschichtlichen Tragweite des Tages machte ich mich vom S-Bahnhof Unter den Linden kommend am späten Vormittag auf den Weg, im Gepäck meine handliche Canon A1, die mir bereits in den Tagen des Mauerfalls treue Dienste erwiesen hatte. Mit schussbereitem Gerät im Zug der Massen unter dem herbstlich-vergoldeten Lindenblätterdach bis zur Staatsoper defilierend, geriet so mancher schwarz-rot-goldener Farbtupfer ins Visier meines Objektivs, der darauf drängte festgehalten zu werden. Die Plattform des Palastes der Republik, dessen Westfassade inzwischen vom Konterfei seiner Erbauer befreit war, bot zum Abschluss einen einzigartigen Rundblick über das festliche Treiben. Von der Schlossbrücke mit ihren weißschimmernden Schinkelfiguren über Zeughaus, Neue Wache und dem Standbild des großen Fritz bis zum (noch) einsam auf weiter Flur stehenden Brandenburger Tor ein geschichtsträchtiges Monument nach dem anderen, in deren Erhabenheit sich frech ein schwarzer Misston in Form einer überdimensionalen Pepsi-Cola Flasche drängte. Klug kalkulierender staatlicher Geschäftsgeist, in weiser Voraussicht auf kommende Einheitskosten? Oder bewusst inszenierte Bremse für nationalistischen Überschwang – eine amerikanische Limonadenflasche als Symbol des Zeitalters jenseits der Ideologien?"
Gottfried Schenk