"Der Abend des 9. November 1989 begann für uns ganz normal. Wir (eine Gruppe von jungen Menschen) trafen uns nach einem Arbeitstag um eine Party zu machen. Keiner ahnte auch nur im Geringsten, dass sich in dieser Nacht unser gesamtes Leben ändern würde. Wir wussten natürlich, was sich in den vergangenen Monaten in der DDR zugetragen hatte, aber solch ein Ereignis erwartete keiner. Wir tranken und lachten, als ein Freund herein stürmte und sagte: 'Ihr glaubt das nicht, aber die machen die Mauer auf.' Erst lachten wir ihn aus, aber dann machten wir den Fernseher an und sahen die Bilder. Welch ein Wahnsinn, die Mauer war offen. Keiner sagte ein Wort, Unverständnis und Ungläubigkeit machten sich breit. 'Was machen wir jetzt?'. Mein Freund schaute mich an. 'Nichts wie raus', sagte ich. Damit zogen wir unsere Jacken an und gingen zum nächsten Grenzübergang.
Noch heute kann ich die Gesichter und die Freude der Menschen sehen, die mit uns in die gleiche Richtung liefen – in die Freiheit. Unzählige Menschen fragten uns: 'Ist es wahr, die Mauer ist offen?' Wir nickten nur, denn glauben konnten wir es auch noch nicht. Meine Hand umklammerte die meines Freundes, und ich hatte Angst. Angst vor dem, was ich über die BRD gehört hatte und davor, wie sie uns aufnehmen würden. Die Straßen waren voll mit Menschen und Trabbis (an denen gerüttelt und getrommelt wurde), es wurde getanzt und gelacht, viele lagen sich in den Armen. Ich sah das alles mit großen Augen an. Ich war damals 19 Jahre alt und konnte mir das erfüllen, was sich so viele Menschen erträumt hatten. Wir erreichten den Übergang, und meine Angst nahm zu, aber auch meine Freude, denn es war zu sehen, dass die Posten der DDR das Feld geräumt hatten. Wir verließen die DDR – mein Gott, welch ein Gefühl. Ich dachte an meine Großmutter und fand es schade, dass sie es nicht mehr miterleben konnte.
Auf der anderen Seite zur BRD standen die 'Wessis'. Ein Mann, den wir gar nicht kannten, kam auf uns zu und nahm uns in die Arme. Er sagte: 'Schön, dass ihr es geschafft habt. Ich kümmere mich um euch, und ihr geht nicht mehr zurück, wer weiß, was dort noch passiert.' Nachdem wir ein Foto gemacht hatten, gingen wir zum Ku'damm. Wo wir auch hin kamen, nahmen uns die Menschen in die Arme und feierten mit uns. Sie sorgten dafür, dass wir zu essen, zu trinken und sogar einen Schlafplatz hatten. Aber wir wollten am nächsten Tag zurück. Viele fragten uns: 'Warum geht ihr zurück? Bleibt doch bei uns!'. Aber wir hatten unsere Familie und Arbeit auf der anderen Seite, in der DDR. Ich ging auch am nächsten Tag geradewegs wieder zur Arbeit. Wir waren einfach so erzogen, dass wir wussten, wo unsere Aufgaben lagen.
Was ich dann aber am Bahnhof Schönefeld sah, war erschreckend. Familien ließen ihre Kinder einfach zurück. Größere Kinder liefen herum und wussten nicht, wo ihre Eltern waren, und Eltern mit kleinen Kindern schliefen auf dem Boden. Es war wirklich schlimm, dies alles zu sehen. Eine Ordnung, ein System, einen Staat gab es nicht mehr."
Manuela Scholz (Ost-Berlin)