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Ein Jahr danach, 9. November 1990: Collage "Kurt Hager-Zitat" [1/1]

INFORMATIONEN ZUM OBJEKT

Details

13. Oktober 1989
Berlin
Urheber: Jürgen Nagel

Lizenztyp: Keine Creative Commons

Aus dem Album

Handgemachtes und DIY

Abgebildet

Zitat

Kontext

Opfer (Kriminologie), Opportunismus, Täter

Personen/Organisationen

Kohl, Helmut Josef Michael

Orte

Andere Orte (Berlin)

Text im Bild

12. Oktober 1989 / Wir sind doch überhaupt diejenigen / die den Dialog erfunden haben / Kurt Hager

Alle Bilder des Albums

Erinnerung

"Ein Jahr danach –

lügt sich jeder seine eigene Geschichte zurecht. Legenden aus Halbwahrheiten, Wunschdenken, Ausreden und Lügen werden gestrickt zu einem vermeintlichen Geschichtsbild.

Da hat ein kleiner Grenzer von der Bornholmer Brücke angeblich das Tor selbst aufgemacht, ohne höheren Befehl. Und also macht sich der Untertan, der noch stets jedem Schießbefehl gehorchte, zum Helden deutscher Geschichte. Während doch schon der ewig lachende Kronprinz des langjährigen Generalsekretärs und sein kurzzeitiger Nachfolger sich ungestraft zum Retter der Nation aufschwingt und auf hochbezahlten Talkshows verkündet, dass er umfangreiche Reformen einleiten wollte und sich ganz persönlich gegen das Blutvergießen entschieden habe. Und noch ein anderes großschnäuziges Mitglied des alten Zentralkomitees, gegen das ebenfalls bis heute und nie Anklage erhoben wurde und werden wird, nimmt vollmundig den Abbau der Grenzbefestigungen gleichermaßen verlogen auf seine eigene Kappe. So spielen sich die Kerkermeister zu Wegbereitern der deutschen Einheit auf – und nicht anders ein christdemokratischer Kanzler von Glückes Gnaden, der nach eigenen Worten konsequent und mit Nachdruck über Jahrzehnte eben diese Einheit vorangetrieben habe. Und sich mit Erfolg feiern lässt von Deutschmark-verdummten Massen voller Bananen- und Mercedesträumen.

Die Wendigen lügen sich ihre Geschichte zurecht. Wort für Wort, Halbwahrheit für Halbwahrheit, Lüge für Lüge wird am Bau der neuen Mauern geackert und mit Erfolg. Eine dieser Mauern richtet sich schon auf in den Köpfen – sie trennt uns von unserer Herkunft. Irgendwann werden wir soweit sein, dass wir mit Nachdruck bestreiten, dass es da mal einen anderen deutschen Staat gegeben hätte und auf nunmehr großdeutschem Boden. Und eine Mauer und einen Schießbefehl und eine Partei und eine Stasi und...

Und jeder der sechzehn Millionen war schon immer Bundesbürger und Demokrat. Keiner war schuld. Alle waren Helden. Oder Opfer. Niemand war Täter. Schlimmstenfalls hatte er die geltenden Gesetze befolgt – widerwillig natürlich und in zähneknirschender heimlicher Gegnerschaft, die noch Schlimmeres verhütet hätte.

Innerhalb des kürzesten Jahres deutscher Geschichte weiß man von gestern schon nichts mehr. Und also von morgen nichts. Ein wendiges Volk, diese Deutschen.

Und die Minderheit Einzelner wird sich ausstopfen lassen müssen – als Exponat des Deutschen Historischen Museums von Kanzlers Gnaden. Das wäre ihr letzter Protest."

(Aus der Sammlung "Das Mauer-Syndrom" mit Kurzprosa aus den Jahren 1961 bis 1990)

Jürgen Nagel (Ost-Berlin)