"Mich hat die Maueröffnung und die Zeit danach tief bewegt. Für mich war sie ein großes geschichtliches Geschenk mit vielen neuen Möglichkeiten – man konnte es annehmen, wie ich es tat, oder auch ablehnen, wie ich es bei einigen Menschen im Westen erlebte. Die Gefühle, die wir in dieser Zeit hatten, waren sehr intensiv, jedoch schwer zu beschreiben: Einerseits schwebte bei allem, was wir in dieser Zeit taten, eine tiefe Ergriffenheit mit, etwas Einmaliges, Großartiges teilen zu können. Vielleicht hing dies mit einer Sehnsucht nach Verbundenheit und Heimat zusammen (was in dem Slogan 'Wir sind ein Volk' auch aufgegriffen und bedient wurde). Andererseits hatten diese Gefühle aber auch etwas mit Abschied von Altem und Gewohntem zu tun, da etwas Neues, Unbestimmtes und Ungewisses begann.
Ich habe all die Veränderungen sehr begrüßt, zumal ich auch früher (vor dem Mauerfall) durch den 'kleinen Grenzverkehr' viel Bedrückendes über das grenznahe Gebiet im Osten erfahren hatte.
Die alte Bedrohungskulisse, ein Zaun aus Misstrauen und Ängsten, brach jetzt in sich zusammen. Ein historisches Machtsymbol wie das Brandenburger Tor und die darum liegende Mauer wurden, wie auf den Silvesterbildern zu sehen, erklommen, der alten verfallenen Macht mit Übermut auf dem Kopf herum getanzt – das gefiel mir. Meine Frau und ich hatten auf einer Party von der riesigen Menschenansammlung am Brandenburger Tor erfahren und fuhren spontan mit einigen Gästen dort hin. Dort angekommen war ich überwältigt von den ausgelassenen, erleichterten und fröhlichen Menschen. Andererseits schwebte über allem auch eine bedrohliche Stimmung mit latenter Aggressivität. Das hatte sicherlich etwas mit der Unsicherheit zu tun, da ein so altes Machtsymbol wie die Mauer erstürmt wurde. In dieser aufgeladenen Stimmung wurde ich angerempelt und wäre fast hingefallen. Meine Frau sorgte sich darum, dass es durch das angetrunkene Gegenüber zu einer Handgreiflichkeit hätte kommen können."
Bernd Schmidt (Göttingen)