"Tagelang verfolgten wir die Geschehnisse in unserem Land im Fernsehen. In Leipzig und Berlin Massendemonstrationen. Bis zu einer Million Menschen am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz. Ein Aufbegehren. Es war so spannend, dass wir keine Information verpassen wollten. Sollte sich tatsächlich die innerdeutsche Grenze öffnen? Am Tag dieser größten Demonstration hatte mein Ehemann Geburtstag. Aber es kam kein anderes Thema auf. Alle waren von den Geschehnissen ergriffen.
Am 9. November die Nachricht über das Radio: Heute ist die Grenze über das hessische Herleshausen passierbar.
10. November. Wieder eine Nachricht im Radio zu hören. Heute kann man zwischen den Dörfern Dorndorf/DDR und Philippsthal/BRD über die Grenze, ganz in der Nähe unserer vertrauten Nachbarschaft. Nun waren wir nicht mehr zu halten. Mit dem Pkw fuhren wir zum Grenzkontrollpunkt Dorndorf (Rhön), der ursprünglich zur Einfahrt in das Sperrgebiet diente. Kilometerlange Autoschlangen stauten sich hier. Erste Information: Hier sollte es einen Stempel in den Personalausweis geben, um in den Westen einfahren zu können. So kam es aber nicht. Die Grenzbeamten waren total überfordert. Die nächste Nachricht: Diesen Stempel gibt es zwischen Oberzella und Philippsthal, auf freier Strecke. Im Schritttempo schlich die Autoschlange dahin. Vor Oberzella hieß es dann: In einer Waschküche in Oberzella gibt es besagten Stempel und die Möglichkeit, pro Person 10 Mark 11 gegen 10 D-Mark umzutauschen. So kam es dann auch.
Wir fuhren weiter und erreichten Philippsthal. Rechts und links Fußgänger. Die waren schneller als wir mit unserem Auto. Seitlich mit uns Fußgänger aus der DDR Richtung Westen und uns entgegen Fußgänger aus dem Westen in Richtung Osten. Ein fröhliches, aufregendes Treiben. Ununterbrochen erklang ein herzliches 'Hallo'. Ich hatte schon einmal etwas von Bad Hersfeld gehört, und da wollten wir hin. Doch weit gefehlt. Die Autofahrt ging nicht voran. Stunden waren wir nun schon unterwegs und noch immer nicht aus Philippsthal heraus. Es gab ja auch das Begrüßungsgeld, und das wollten wir doch auch zu gerne haben. Hinter Philippsthal dann unser Entschluss: Wir drehen wieder um.
In Philippsthal entdeckten wir die Raiffeisenbank. Hinein, so gut es ging. Der ganze Bankraum war voller Menschen. Alle mit dem gleichen Anliegen wie wir. Wir bekamen unser Geld. Nun wollten wir doch unseren Kinder und Enkelkindern auch etwas aus dem Westen mit nach Hause bringen, möglichst Süßigkeiten, die aus dem Werbefernsehen bekannt waren. Der kleine Lebensmittelladen, den wir dann fanden, hatte schon große Umsätze getätigt. Die Regale waren fast leer, aber es gab noch genug, um zu Hause Freude zu bereiten. Gegen 23 Uhr waren wir wieder zu Hause. Es war ein langer, unvergesslicher und ereignisreicher Tag."
Renate Börner (Dönges, geboren 1940)