"Auch am zweiten Weihnachtsfeiertag wandern Tausende von Berlinern zum Brandenburger Tor. Es ist ein sonniger, frostfreier Tag. Ich bin mit meinem Bruder unterwegs, wir wollen nach Ostberlin, durch den Grenzübergang Invalidenstraße. Wir machen an dem schönen Tag einen Abstecher zum Brandenburger Tor. Inmitten der Menschenmenge ein kleines Pappschild: 'In memoria fratilor romani. Pane + libertate.' – In Gedenken an unsere rumänischen Brüder. Frieden und Freiheit. Während Tausende von Berlinern am Brandenburger Tor die friedliche Revolution und den Fall der Mauer feiern, erinnert ein kleines Schild, rund hundert Meter vor Berlins Wahrzeichen der Teilung, an die Niederschlagung des Ceauçescu-Regimes in Rumänien, bei der fast 1000 Menschen zu Tode kamen. Es ist ein ruhiger Tag. Kein Gegröle, kein lauter Jubel, hier an dieser Stelle bleiben die Menschen stehen und besinnen sich.
Einige Minuten später stehen wir vor dem Grenzübergang Invalidenstraße. Die Grenzbäume sind nach oben gestellt. Nervös ziehe ich meinen Reisepass heraus. Es ist das erste Mal seit fast fünf Jahren, dass ich Ostberliner Boden betrete (in meinen Stasiakten, die ich 1992 einsehen konnte, steht der Vermerk: Einreiseverbot bis 31.12.1999). Mein Bruder ruft mir zu, ihm zu folgen. Wir kommen an dem Grenzhäuschen vorbei. Müde steht ein Grenzsoldat darin und winkt mich vorbei. Ich brauche nichts zu tun, keinen Ausweis vorzeigen, keine Fragen nach Schusswaffen und Munition beantworten, keine Taschen öffnen. Jetzt bin ich mir absolut bewusst, dass es bald keine DDR mehr geben wird. Ein Staat hat seine Souveränität, die an der Staatsgrenze beginnt, aufgegeben.
Ich besuche zum ersten Mal seit fünf Jahren wieder meine Verwandten in Ostberlin. Dort treffe ich auch meine Tante aus Basdorf, die bereits 1987 prophezeite, dass die DDR vor die Hunde gehen wird."
Detlef Bahr (West-Berlin)